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Disziplin
 

Ich bin wie schon gesagt nach der Trennung meiner Eltern zwischen ca. meinem 4. bis 13. Lebensjahr mit meiner um 1 Jahr älteren Schwester Christiane vorwiegend in von Nonnen geführten katholischen Internaten groß geworden, die in Frankreich als Kinderheime fungieren.
 

 

Es herrschte zur Regelung des Alltagslebens eine strenge Disziplin, die sich vor allem dadurch ausgewirkt hat, dass die Kinder nie allein sein durften, dass sie sich nie frei bewegen und etwas selbständig unternehmen durften, alles musste immer nur gemeinsam geschehen:  Gemeinsam zu den Schlafsälen, gemeinsam zu den Waschräumen, gemeinsam zum Speisesaal, gemeinsam zu den Spielräumen, gemeinsam zu den Klassenräumen, alles immer nur in Reihe gemeinsam. Diese Regelung habe ich als normal angesehen, ich kannte ja nichts Anderes und war außerdem charakter-schwach:  angepasst, gehorsam, träume-risch, introvertiert.

 


 

 

Meine Schwester Christiane war ganz anders. Sie war offen, gesellig, unternehmungslustig, charakterstark. Mit der Disziplin hat sie es nie so genau genommen, zu meinem Entsetzen.

 

Hatte zum Beispiel ein Kind ein Schulbuch oder eine Jacke im Schlafsaal vergessen, stand es vor einem Dilemma: Entweder bei einer Nonne um Erlaubnis bitten, in Schlafsaal zu laufen, weil man dort etwas vergessen hatte – was eine Rüge mit sich gezogen hätte, man soll nichts vergessen – oder heimlich dorthin zu laufen – was eine Rüge mit sich gezogen hätte, falls man erwischt wurde. Mich hätten ohnehin keine 10 Pferde heimlich in Schlafsaal geschafft. Für meine Schwester war so etwas kein Thema, sogar die anderen Kinder sind zu ihr gekommen, um sie um solche Art von Leistungen zu bitten. Ich konnte es nie verstehen. Natürlich wurde sie oft genug bei Disziplinverstößen erwischt und bestraft: In der Regel eine Woche mithelfen beim Abwaschen - was beim Abwasch für bis zu 80 Kindern nicht gerade angenehm war - oder anstatt zu spielen eine Stunde in der Kapelle reuebeten – was auch nicht gerade prickelnd war. Noch dazu hat sie die Strafen verschlimmert: Bei Rügen sollte man die Nonnen nicht ins Gesicht angucken, sondern als Unterwerfung runter schauen. Christiane hat sie dabei immer frech ins Gesicht angeguckt, ich höre heute noch den Satz: „Mademoiselle Lopez, baissez les yeux ! - Fräulein Lopez, schauen Sie runter!“ Ich konnte es nie verstehen, warum machst Du das bloß, es kostet doch nichts runter zu schauen, es macht doch alles nur schlimmer! Christiane war anders. Bei Elterngesprächen bei der Mutter Oberin musste unsere Mutter sich immer anhören: „Ihre Kleine ist sehr diszipliniert, aber Ihre Große...„ Christiane war anders.

Nur ein Mal waren wir nicht anders, werde ich nie vergessen.

Das Frühstück im Speisesaal war so organisiert: Mit einer leeren Frühstückschüssel haben wir uns  zu der Aufsichtsnonne eingereiht, die vor einem riesen Topf stand und jedem Kind eine Kelle Milchkaffee gegeben hat. An den Tischen gab es Baguette-Brot, das wir à la französisch in Milchkaffee getränkt haben. Das schmeckte mir auch immer gut, jedoch konnte ich dann nur mit ganz großen Schwierigkeiten den Rest Milchkaffee aus der Schüssel trinken: Die glitschigen Brotreste  haben mich angewidert, ich konnte sie nicht runterschlucken, ich habe sie mit zusammengebissenen Zähnen herausfiltriert und musste immer einen ekeligen Bodensatz in der Schüssel liegen lassen, was jedoch  verboten war: Wir mussten immer alles aufessen, was uns serviert wurde. Das ging aber zu meiner Erleichterung immer gut. Nur ein Mal ging es schief.  Wir hatten ausnahmsweise als Frühstücksaufsicht die Schwester Marie-Joseph, ein Drache. Zum Ende des Frühstücks inspizierte sie die Tische. Ich ahnte nichts Gutes. Und es kam auch nichts Gutes. Sie befahl mir, meine Schüssel auszutrinken. Mir wurde vor Ekel und Angst heiß und kalt, ich konnte es nicht, ich wußte, dass ich es nicht konnte. Ich sagte „Nein.“ Ich hörte, dass es still am Tisch wurde. Eine direkte Konfrontation mit dem Drache, und das auch noch mit der unscheinbaren Kleinen Lopez. Sie befahl es mir noch einmal, ich bockte noch einmal „Nein.“ Der Drache kam zu mir von hinten, griff nach der Schüssel über meine Schulter und führte sie mit Gewalt zu meinem Mund. Ich wehrte mich heftig und schob die Schüssel nach oben, deren Inhalt auf ihr Gesicht und auf ihre breite, weiße Haube landete. Der super-GAU. Nach einer kleinen Weile, wo sie sich wohl unter Kontrolle halten musste, schrie sie mich an, ich solle den Saal verlassen und eine Woche lang nicht zum Frühstück erscheinen.

Am nächsten Morgen wollte ich nicht zum Speisesaal runtergehen. Christiane sagte zu mir: „Kommt nicht in Frage, Du bekommst Dein Frühstück, sie darf es nicht, man darf nicht die Kinder mit Nahrungsentzug bestrafen,  komm mit,  Du  bekommst  Dein Frühstück.“  Sie  reihte  sich  neben  mir zu  dem  Drache ein.

Ich zitterte innerlich. Die Nonne sagte mir, sie wolle mich eine Woche lang nicht zum Frühstück sehen, ich solle den Saal verlassen. Dann hörte ich Christiane mit klarer, ruhiger Stimme sagen: „Meine Schwester bekommt ihr Frühstück. Jetzt.“ Ihre Stimme und ihre Worte bewirkten eine Umwandlung meiner Gefühlslage: Ich richtete mich innerlich auf, ihre Stärke kam auf mich rüber, ich als Gehorsame und Unterworfene fühlte mich auf einmal mächtig, so stark und so mächtig wie die ganze Welt. Ich guckte die beiden an: sie maßen sich mit den Augen. Und Christiane gewann. Die Nonne kippte ohne ein Wort eine Kelle Milchkaffee in meine Schüssel. Eine Meldung bei der Mutter Oberin über die Schwester Lopez gab es nicht.


Die Aufständige, die Mutige, sie hat mich gegen die ganze Welt verteidigt, sie hat meine Rechte gegen die ganze Welt durchgesetzt, meine Schwester.

 

 

 

 

 

 

 


Frankfurt, 2014
Demo gegen AIR FRANCE wegen Transport von Versuchstieren

 

 

 

 

 

Bild Kinder: Auftragsarbeit, Öl auf Leinwand, 2016
 © Antonia Sanker, Köln
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