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Nach der Flucht über die Grenze nach Frankreich (Erzählung Mein Vater) war es wohl für meine Oma weiter nicht ganz leicht: Flüchtlingslager, und dann auch bald Krieg in Frankreich, der Sohn untergebracht bei Bauern in der  landwirtschaftlichen  Region  Aveyron.
 

Der Ehemann  war  nach Frankreich nachgekommen, die Familie hat sich kurz nach dem Krieg in Städtchen Gardanne niedergelassen, 30 km nördlich von Marseille, wie viele anderen spanischen Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg auch. Dort gibt es nämlich ein Kohlenbergbau, die Männer haben alle dort gearbeitet. Mein Vater durfte dort nicht arbeiten, bei Röntgenaufnahmen wurde ein Schleier auf der Lunge festgestellt, er arbeitete als Hilfsarbeiter in einem Sägewerk in Marseille und wohnte auch in diesem ärmlichen Marseiller Arbeiterviertel, wo er meine Mutter kennen gelernt hat, wo ich später geboren wurde und auch viel später mit meiner Mutter gewohnt habe.

 

Dazwischen war ich aber schon im Internat mit meiner Schwester Christiane untergebracht. Einmal hat unser Vater uns aus dem Sommerquartier des Internats in den Alpen entführt. Ich habe von diesem Tag keine Erinnerungen, Christiane ja. Er hat uns zu seiner Mutter nach Gardanne gebracht, zu der Oma, bei der er auch wohnte. Ich habe nicht viel zusammenhängende Erinnerungen aus dieser Zeit, aber mindestens ein paar Monate müssen wir wohl da geblieben sein, ich weiß nämlich noch ein paar Sachen von der Schule dort.

 

Die Wohnung der Oma war wohl ziemlich ärmlich, im 1. Stock über einem Keller gelegen, in einer stark abschüssigen Strasse. Der Fußboden in der Küche war komisch, er hatte eine riesige Mulde, aber ich habe mir zu dieser Zeit keine Gedanken darüber gemacht. Es gab zwar Strom aber kein fließendes Wasser, auf der Spüle war eine riesige Blechschüssel mit einer Kelle drin. Das Wasser haben wir ein paar Straßen weiter aus einer Gemeindepumpe geholt, nicht eine mit Hebel zum Pumpen, eine mit Deckeldrehen, man sieht sie heute noch in manchen Dörfern und Städtchen in der Provence. Oft habe ich die Oma gesehen, die Eimer nach Hause schleppte, ich habe nie verstanden, wozu sie denn so viel Wasser brauchte. Manchmal hat sie uns aus dem Fenster gerufen: „Niñas… agua!!!... Niñas!...“. Meistens haben wir auch Wasser geholt, ich habe nie so richtig verstanden, wozu sie denn so viel Wasser brauchte. Manchmal habe ich vielleicht so getan, als ob ich das nicht gehört hätte, vielleicht. Wenn unser Vater abends nach Hause kam und die Oma fragte, ob wir Wasser geholt hätten, hat sie immer ja gesagt, auch wenn es nicht stimmte. Es war eine sanfte, liebe Oma, unsere abuelita.

 

Zu dieser Zeit hatte sie manchmal komische Anfälle: Sie wurde ganz rot im Gesicht, auf einmal aus heiterem Himmel ganz aufgeregt, sie sprach viel vor sich hin, sie haute sich auf die Stirn mit der Faust, sie öffnete das Fenster und erzählte laut in die Straße alles was sie damals gehabt habe, wie viele bestickten Tischdecken und wie viele bestickten Bettlaken sie damals hatte. Die Nachbarn haben durch Zurufen versucht, sie zu beruhigen, aber sie war auch nicht durch Zurufen zu beruhigen. Manchmal hat sie uns dabei auch aus dem Fenster gerufen: „Niñas!!! Kommt, wir müssen packen!... Kommt, wir müssen gehen!... Sie kommen!... Sie kommen!...“. Die Kinder haben diese Anfälle lustig gefunden, ich vielleicht auch, vielleicht. Manche haben manchmal zurückgerufen, ich vielleicht auch: „Ja! Sie kommen, sie kommen!!!... Sie sind schon da!!!…“. Sie hatten keine Ahnung, wer kommen sollte, ich auch nicht. Sie räumte auch manchmal die Schränke aus und packte wild ein. Wenn der Anfall vorbei war, hat sie alles wieder eingeräumt.

 

Sie ist 85-jährig gestorben. Wie gerne würde ich ihr jetzt ein paar Eimer Wasser holen. Wenn es Gott gibt, möge er mir dafür vergeben, ich war ein Kind, ich wusste nicht, was ich tat.

     

 

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