20. Juli 2009
Unwissenschaftliche und falsche Wissensvermittlung an die nachkommenden Generationen
Ich komme auf die in meiner E-Mail an Prof. Dr. Jürgen Richter zitierten Aussagen vom Autor Jay Orear zurück:
Über das Zwillingsparadoxon (es wird auch Uhrenparadoxon genannt) ist lange debattiert worden. Heutzutage akzeptieren fast alle Physiker die hier gegebene Interpretation. Lediglich einige Philosophen, Mathematiker und sogar ein oder zwei Physiker behaupten immer noch, daß beide Zwillinge auf dasselbe physikalische Alter kommen müssen. Der Autor dieses Buches ist so überzeugt von der Verlangsamung des Alterns bei Raumfahrern, wie er von irgend etwas in der Physik überzeugt ist.
Jay Orear: “Physik”. München. Carl Hanser 1982/1985. S. 162.
Diese Aussagen aus einem seit über zwanzig Jahren an den Hochschulen und Universitäten bei Physik- und Ingenieurstudenten verbreiteten einführenden Lehrbuch finde ich merkwürdig und hochgradig unwissenschaftlich.
Der Autor eines Lehrbuches spricht zwar exaltiert von seiner persönlichen „Überzeugung“ von der Verlangsamung des Alterns bei Raumfahrern, jedoch sind persönliche Überzeugungen keine wissenschaftlichen Argumente, zumal keinerlei experimentelle Nachweise für diese Überzeugung vorliegen. Man darf also seine persönliche Überzeugung teilen, man muss es nicht.
Dafür erwähnt er äußerst vage Tatsachen, worauf er nicht sinnvoll und brauchbar eingeht:
1) Es soll über das Zwillingsparadoxon „lange debattiert“ worden sein.
Wie lange? Sind diese Debatten einzusehen? Wo? Wer hat entschieden, dass diese „langen Debatten“ zugunsten seiner eigenen, vorliegenden Interpretation abzuschließen seien?
2) Es sollen „einige Philosophen, Mathematiker und sogar ein oder zwei Physiker“ geben, die „immer noch behaupten“, dass beide Zwillinge auf dasselbe physikalische Alter kommen müssen.
– Welche Philosophen und welche Mathematiker „behaupten“ es? Namen? Wo sind ihre Arbeiten einzusehen?
– Gibt es „ein“ oder aber „zwei“ Physiker, die es auch „behaupten“? Namen dieser 1 oder 2 Autoren? Wo sind ihre Arbeiten einzusehen?
– Meint der Autor mit dieser Angabe „ein oder zwei Physiker“ seine Aussage begründet zu haben, dass „heutzutage fast alle Physiker die hier gegebene Interpretation akzeptieren„? Akzeptieren alle Physiker diese Interpretation, bis auf diesen ein oder zwei anonymen Physikern? Woher will der Autor es wissen?
3) Haben diese anonym erwähnten Autoren lediglich „Behauptungen“ über ihre abweichende Interpretation geliefert, oder haben sie sie auch begründet? Was für Begründungen? Welche Argumente? Wo sind ihre Arbeiten nachzulesen?
Stellen diese Aussagen aus einem Lehrbuch eine seriöse Auseinandersetzung mit Gegenpositionen zu eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen und Interpretationen dar? Auch nur im Ansatz? Haben damit die angehenden Physiker und Ingenieure überhaupt einen Einblick in einem umstrittenen Sachverhalt, der Anlaß zu „langen Debatten“ gegeben haben soll? Sind die angehenden Physiker und Ingenieure durch diese Diktion überhaupt motiviert, die Gegenpositionen in diesem Meinungsstreit selbst zu recherchieren und sich ihre eigene Meinung zu bilden? Wird im öffentlichen Bildungssystem die wissenschaftliche Wahrheit lediglich nach den persönlichen „Überzeugungen“ der Lehrbeauftragte und nach dem Mehrheitsverfahren entschieden und tradiert?
Aus meiner Sicht verstoßt diese Art der Wissensvermittlung in einem Lehrbuch gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes, zumal beiläufig zugegeben wurde, dass ein wissenschaftlicher Meinungsstreit lange stattgefunden hat („Über das Zwillingsparadoxon (es wird auch Uhrenparadoxon genannt) ist lange debattiert worden“). Ich erinnere, dass bei der Wissensvermittlung an die nachfolgenden Generationen das Grundgesetz eindeutige Pflichte für den Staat im öffentlichen Bildungssystem vorgesehen hat, siehe zum Beispiel mein Blog-Eintrag: Der Staat verstösst seit Jahrzehnten gegen das Grundgesetz. Nachstehend einige Auszüge aus dem Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 § 3 [Hervorhebungen im Fettdruck durch mich]:
Für die “freie wissenschaftliche Entfaltung” … “reicht es nicht aus, in Art. 5 Abs. 3 GG nur den Schutz der individuellen Freiheit des beamteten Wissenschaftlers zu erblicken” (S. 21)
Die Wissenschaftsfreiheit ist mehr als ein Spezialfall der Meinungsfreiheit des beamteten Hochschullehrers” (Seite 40)
Die Wissenschaftsfreiheit zwingt nicht zuletzt dazu, die Vielfalt der wissenschaftlichen Ansätze im Sinne eines Wissenschaftspluralismus mit dem darin liegenden Innovationspotential zu respektieren, zu schützen und zu fördern; für den Staat führt dies zu einem Gebot der Nicht-Identifikation (Seite 41).
“Der Wissenschaftler muss das eigene Forschungsresultat zum bisherigen Stand der Erkenntnisse in Bezug setzen und sich zumindest ansatzweise mit Gegenpositionen auseinandersetzen. […] Das Verfassungsgericht verfährt bei der Anwendung dieser Kriterien sehr großzügig (”weit zu verstehende(r) Wissenschaftsbegriff”) und spricht einem Werk die Wissenschaftlichkeit nur dann ab, wenn “es nicht auf Wahrheitserkenntnis gerichtet ist, sondern vorgefaßten Meinungen und Ergebnissen lediglich den Anschein wissenschaftlicher Gewinnung oder Nachweisbarkeit verleiht”. Indiz dafür ist “die systematische Ausblendung von Fakten, Quellen, Ansichten und Ergebnissen, die die Auffassung des Autors in Frage stellen” (S. 42)
Der Staat (hat) durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung so weit unangetastet bleibt …” (S. 22).
Die Förderung der Wissenschaft durch den Staat muß dem “Gebot meinungsneutraler Wissenschaftspflege” entsprechen (Seite 34).
Bei der Interpretation des Zwillingsparadoxons haben wir also ein Beispiel, wo diese gesetzlichen Bestimmungen im öffentlichen Bildungssystem nicht respektiert wurden, wobei hier sogar eine falsche Auslegung der Theorie sich lediglich aufgrund von rein persönlichen Überzeugungen durchgesetzt hat (materielle Realität der relativistischen Effekte), die jedoch von einer als kompetent und zuständig vom Bundesministerium für Bildung und Forschung genannten öffentlichen Institution (Albert Einstein Institut) verneint wurde.
(Jocelyne Lopez)
[…] Möglicherweise sind aber innerhalb der akademischen Physik zwischen Befürwortern der Relativitätstheorie Rivalitäten oder gravierende Meinungsverschiedenheiten über die Interpretation der Theorie vorhanden, ohne dass die Öffentlichkeit davon direkt etwas erfährt. Wer weiß schon draußen, was in den Elfenbeintürmen der Universitäten so vor sich hingeht? Immerhin sind die Aussagen vom Autor Jay Orear in einem Physiklehrbuch ziemlich merkwürdig und haben aus meiner Sicht nichts Wissenschaftliches, sie sind eher der Ausdruck eines Glaubenbekenntnisses, siehe Unwissenschaftliche und falsche Wissensvermittlung an die nachkommenden Generationen: […]