Blog – Jocelyne Lopez

Unsorgfältiger Umgang mit historischen Quellen

Ich verweise auf meinen Thread Paul Celan: Die Todesfuge im Forum zeitwort.at und wiedergebe einige Austausche:


28.05.09 – Zitat von Jocelyne Lopez
:

Ich möchte die Todesfuge von Paul Celan zur Diskussion stellen, weil mir in den letzen Jahren im Internet etwas ganz Merkwürdiges im Zusammenhang mit diesem Gedicht bewusst wurde:

Warum sollte man denn in Deutschland (und in Österreich?) über die Todesfuge von Paul Celan schweigen?

Ich muß sagen, dass ich bis vor 5-6 Jahren dieses Gedicht überhaupt nicht kannte, nur durch eine kurze Erwähnung der Worte „Celan“ und „schwarze Milch der Frühe“ in einer – gehobenen – Forumsdiskussion bei Wissenschaft-online. Ich habe nicht verstanden, was diese seltsamen Worte in dieser Diskussion bedeuteten (es ging übrigens überhaupt nicht um Naziherrschaft und um Holocaust) und ich kannte den Namen „Celan“ auch nicht. Ich habe nachgefragt. Man hat mir einen Hinweis gegeben, ich solle bei Google unter „Paul Celan Todesfuge“ suchen.

Ich habe dann das Gedicht im Internet völlig unvoreingenommen und frei von fremden Interpretationen, Schulunterrichten und bibliographischem Wissen über das Leben und das Werk des Autors gelesen und aufgenommen. Dass es sich um eine Symbolik der Leiden der Juden unter der Naziherrschaft und um die Ermordung von KZ-Insassen handelte brauchte mir natürlich keiner zu erklären, das habe ich ja sofort erkannt. Dass es sich um die Worte eines Überlebenden handelte, der das persönlich erlebt hatte, habe ich auch erkannt oder zumindest stark vermutet, ohne zu wissen, dass der Autor es in der Tat persönlich erlebt hatte. Das erkennt man irgendwie an seine Worte, obwohl – und vielleicht deshalb, weil das Gedicht nur aus Metaphern besteht. Die Symbolik dieser einen Metapher „schwarze Milch der Frühe„, habe ich gleich unmittelbar persönlich empfunden. Symbolik beschreibt meistens gleichzeitig mehrere Ebenen der Wirklichkeit, das ist das Faszinierende – und manchmal auch das Unheimliche bei der symbolischen Sprache.

Dass meine Interpretation Anlaß zu unglaublich brutalen Angriffen von Users aus dem Internet gegeben hat habe ich immer noch Schwierigkeiten zu verstehen. Die Umstände darüber habe ich in meinem heutigen Blog-Eintrag zusammengefasst.

Was ist Eure persönliche Erfahrung mit diesem Gedicht? Ist das Gedicht in Deutschland (und in Österreich) Unterricht-Pflicht? Ist seine Interpretation im Unterricht gesteuert? Ist das Gedicht Tabu? Was meint Ihr? 

 

28.05.09 – Zitat von saurau:

wir haben das gedicht in einem metaphern-seminar auf der germanistik wien besprochen. das ist allerdings schon einige jahre her. im übrigen findet es sich u.a. vollständig abgedruckt in stichwort literatur. geschichte der deutschsprachigen literatur. linz: veritas-verlag, 5. auflage 1997. s. 234f. das buch ist das standard-literaturlexikon der ahs-oberstufe (immer noch). zitat daraus:

Das ‚Furchtbarste‘ in Worte gefasst

Paul Celan (1920-1970), dessen Gedichttexte oft als ‚reine Poesie‘ missverstanden werden, ist ein Überlebender der faschistischen Massenvernichtung, bei der seine Eltern ermordet werden. Er versucht mit dem 1945 entstandenen Gedicht Todesfuge die Schrecken der Konzentrationslager sagbar zu machen. Das Gedicht thematisiert die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Auschwitz. Celan versucht auch damit, die Ermordung seiner Eltern durch die SS und die Vernichtung so vieler seiner jüdischen Glaubensgenossen durch die nationalsozialistische Todesmaschinerie zu verarbeiten.
[…]
Paul Celans Gedicht ist ein dichterisches Kunstwerk, das das musikalische Prinzip der Fuge sprachlich verwirklicht.

ich denke, gute lyrik (wie gute literatur im allgemeinen) ist niemals eindeutig. insofern ist jede interpretation zulässig, wenn sie sich anhand von textstellen vertreten lässt. eine tabuisierung des gedichts ist mir nicht bekannt.

 

29.05.09 – Zitat von Jocelyne Lopez:

Wenn man diese Einleitung zu Celan und zu seinem Gedicht „Todesfuge“ aus einem Standard-Literaturlexikon der ahs-Oberstufe liest, das „die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Auschwitz“ und die „Todesmaschinerie der SS“ thematisieren soll, dann fällt mir ein, was ich vorher in meinem Eingangsbeitrag gefragt habe, ob das Unterricht über dieses Gedicht und über seine Interpretation im Bildungssystem gesteuert wird.

Im Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan wird nämlich mit keinem Wort die „Todesmaschinerie der SS“ thematisiert: Der Autor beschreibt die Ermordung durch einen einzigen Mann mit einer Pistole von KZ-Häftlingen, die vorher ihren eigenen Grab graben mussten. Dies ist das Verbrechen eines sadistischen Mörders, was jedoch nicht als „Todesmaschinerie“ bezeichnet werden kann.

Also für die „Todesfuge“ ist diese Einleitung nicht zutreffend. Vielleicht hat Paul Celan in anderen Gedichten die Massenvergasung in Auschwitz beschrieben (sie wird unter „Todesmaschinerie“ allgemein bezeichnet), das weiß ich nicht, ich habe keine anderen Texten von Celan gelesen, nicht aber mit diesem Gedicht.

  

30.05.09 – Zitat von Jocelyne Lopez:

Diese Einleitung aus einem Standardlexikon für das Schulunterricht dokumentiert einen unsorgfältigen Umgang mit Quellen über historische Ereignisse. Uns wird mit dieser Einleitung folgendes mitgeteilt:

– Paul Celan war ein Zeitzeuge, er ist ein Überlebender des KZs Auschwitz
– Er hat die (lyrische) Berichtserstattung „Todesfuge“ über seine persönlichen
  Erlebnisse unmittelbar nach den Geschehen geschrieben (1945)
– Er hat in seinem Gedicht die „Todesmaschinerie“ der Nazis in Auschwitz
  thematisiert (implizit gemeint: Massenvergasung).

Jedoch stellt man beim Lesen des Gedichts fest, dass er mit keinem Wort die „Todesmaschinerie“ der Nazis beschrieben hat.

Man soll eine authentische Quelle nicht sagen lassen, was sie nicht sagt.

Berichte von Zeitzeugen sind nämlich selten: Es gab ja viele KZ-Häftlinge und wenig Überlebende. In der „Buchhaltung“ der KZ wurden m.W. keine Todesursachen angegeben, so dass die überwiegende Anzahl der Familien der im KZ verstorbenen Menschen wohl nichts Näheres über das Schicksal ihrer Angehörigen wissen dürften, als „im KZ gestorben“. Auch im Gedicht von Paul Celan ist kein Hinweis und keine Andeutung darüber zu finden, dass er Zeuge von der „Ermordung seiner Eltern durch die SS “ wurde, die in der Einleitung erwähnt ist: Paul Celan sagt in seinem Gedicht nichts über die Identität, über die Anzahl und über eine eventuelle Verwandtschaft mit den Häftlingen, die hingerichtet wurden.

Man soll eine historische Quelle nicht sagen lassen, was sie nicht sagt.