4. Dezember 2007
Ivan Slade: Falsche Erziehung zur Unfehlbarkeit
Unter dem Titel des heutigen Themas „Die offene Gesellschaft“ geht es in erster Linie um den Menschen. Natürlich hat dieses Thema viel mit Politik zu tun, aber nicht ausschließlich mit Politik, und ich will deshalb versuchen, eine angeblich unpolitische Institution zu kritisieren: das Bildungswesen. Meine These ist einfach, aber ich glaube, sie ist nicht unbedeutend: In der Schule werden wir fast alle dazu erzogen, Autoritäten anzuerkennen. Ich behaupte, dass die kritische Fähigkeit des menschlichen Denkens in der Schule und zum Teil an der Universität nicht gefördert, vielleicht sogar unterdrückt wird. Ich glaube, dass die Lehrer verpflichtet sind, junge Menschen zum kritischen Denken zu erziehen, so dass sie in Zukunft einen Beitrag zur offenen Gesellschaft leisten können.
Mit zwölf Jahren habe ich meinen Physiklehrer gefragt: Was ist Energie? Inzwischen weiß ich, dass so eine Frage schwer zu beantworten ist. Aber er hat überhaupt nicht versucht, meine Frage zu beantworten. Dies ist ein sehr kleines Beispiel aus meiner Schulzeit. Immer wenn ich während dieser Zeit versuchte, etwas Kritisches zu fragen, bekam ich keine Antwort.
Jeder von uns weiß, dass wir fehlbar sind, sehr fehlbar. Aber unter normalen Umständen geben wir dennoch unsere Fehlbarkeit anderen gegenüber nie oder nur selten zu. Es gibt interessante Ausnahmen. Wenn man zum Beispiel versucht, eine Fremdsprache zu sprechen. Wie oft hört man als Antwort auf die Frage: „Sprechen Sie Deutsch?“ – „Ja, ein bisschen.“ In diesem Fall gibt der Mensch gerne zu, dass seine fremdsprachliche Kenntnis unzulänglich ist, aber auf anderen Gebieten scheut er sich, es zu tun. Normalerweise versucht der Mensch, seine Fehlbarkeit zu verbergen, zu vertuschen. Es könnte als eine Art Verschwörung betrachtet werden: Wir alle wissen, wie fehlbar wir sind, wie wenig wir wissen, aber niemand gibt es gerne zu. In der Schule sind wir nämlich erzogen worden, als ob unser Kopf ein Kübel wäre – wie Popper es beschrieben hat – und die Aufgabe des Lehrers darin bestünde, die Information mit dem passenden Trichter einzugießen. Aber wenn wir einsehen, was an unserer Erziehung falsch ist – warum ist es so schwer, sie zu ändern?
(Ivan Slade, Studium der Physik, Assistent von Karl Popper)
Quelle:
Die Zukunft ist offen
Karl R. Popper / Konrad Lorenz
Piper, Band 340, 1985
Mit den Texten des Wiener Popper-Symposiums