16. Juli 2008
Prof. Dr. Peter Weingart: Ist das Wissenschafts-Ethos noch zu retten?
Nachstehend Auszüge aus einem Artikel in der Zeitschrift Gegenworte, 2. Heft 1998, Seiten 12 – 17:
Aufgeschreckt durch einen eklatanten Betrugsfall in der Forschung, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 1997 einen „Ehrenkodex“ für die Wissenschaft verkündet. Darin wurden u.a. Plagiat und Fälschung von Daten als Tatbestände wissenschaftlichen Fehlverhalten identifiziert und Gutachter zur Offenlegung möglicher Befangenheit verpflichtet. In ähnlicher Form hat auch die Max-Planck-Gesellschaft einen Katalog von Fehlverhaltensweisen festgeschrieben. Dies sind äußere Anzeichen dafür, dass die Wissenschaft offensichtlich von einer Reihe von Verhaltensregeln bestimmt wird, deren Verletzung oder Nichtbeachtung soziale Sanktionen zur Folge hat. Dass es einer Bekräftigung durch die zwei führenden Wissenschaftsorganisationen Deutschland bedarf und in den USA zu diesem Zweck sogar eine Regierungsbehörde gegründet worden ist, darin läßt sich überdies ein Indiz dafür sehen, dass die Gesellschaft als ganze offenbar ein Interesse an der Einhaltung der Regeln hat (oder zumindest DFG und MPG unterstellen, dass dies so ist). Die Regeln selbst erschienen selbstverständlich, ohne dass jedem bewusst wäre, warum es gerade diese sind und keine anderen.
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Betrug und Ehrenkodex
Warum sollten Wissenschaftler ihre Daten nicht beschönigen, wie es in den Medien oder der Werbebranche üblich ist und – z.B. gegenüber letzterer – von der Öffentlichkeit auch vorausgesetzt wird? Warum sollte ein Gutachter Befangenheit erklären, wenn er einen befreundeten Kollegen befördern oder einen ungeliebten Konkurrenten effektiver ausschalten könnte, wo dies in anderen Geschäftsbeziehungen nicht unüblich ist? Warum sollte ein Forscher nicht erfolgreiche Ideen seiner Kollegen kopieren, ohne ihre Urheber zu nennen, wenn dies in marktorientierten Handlungsbereichen ein möglicher Weg zum Profit ist?
Der Grund für die offenkundige Andersartigkeit der Wissenschaft als soziales System von der Politik, der Wirtschaft und den Medien besteht in der Art ihres Produkts und den Bedingungen, unter denen es hergestellt wird. […]
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Das Ethos der Wissenschaft
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. Universalismus ist die „Vorschrift, dass Wahrheitsansprüche unabhängig von ihrem Ursprung vorgängig gebildeten unpersönlichen Kriterien unterworfen werden müssen: Übereinstimmung mit Beobachtung und mit bereits bestätigtem Wissen. Die Annahme oder Ablehnung der Ansprüche hängt nicht von personalen oder sozialen Eigenschaften ihrer Protagonisten ab; seine Rasse, Nationalität, Religion, Klassenzugehörigkeit oder persönlichen Qualitäten sind als solche irrelevant.. Kommunismus bedeutet, dass die „materielle Ergebnisse der Wissenschaft (…) ein Produkt sozialer Zusammenarbeit (sind) und (…) der Gemeinschaft zugeschrieben„ werden. […]
. Organisierter Skeptizismus ist „sowohl ein methodologisches wie auch ein institutionelles Mandat. Die Zurückhaltung des endgültigen Urteils bis „die Fakten zur Hand sind“ und die unvoreingenommene Prüfung von Glaubenshaltungen und Überzeugungen aufgrund empirischer und logischer Kriterien…“.
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Gegenkräfte
[…] Jeder Soziologe, so Merton, würde geneigt sein festzustellen, dass er unter diesen veränderten Bedingungen ein neues Ethos der Wissenschaft, einen neuen Satz von Werten und institutionell geprägten Motiven geben müsse. Er führte (vor fünfundzwangig Jahren!) die inzwischen allseits beschworenen Phänomene an: die frühe Veröffentlichung von Ergebnissen und Modellen, bevor die Theorie bestätigt ist, auf Kosten von vorsichtigeren Konkurrenten; die intensivierte Rivalität aufgrund erhöhter Spezialisierung und den damit scheinbar einhergehenden Zynismus; die Amoralität und die Desillusionierung der Wissenschaftler.
[…] Es fragt sich ohnehin, ob die systematischen Ursachen der Krise, wenn es sich denn um eine solche handelt, außerhalb der Wissenschaft zu suchen sind oder innerhalb der Wissenschaft von ihr selbst erzeugt werden.
[…] Die Erosion des Vertrauens in die Wissenschaftler schreitet in dem Maß voran, in dem offenkundig wir, dass die individuellen Experten und die Institutionen, von deren Wissensproduktion (…) die postmoderne Gesellschaft abhängt, an Interessen gebunden sind. […]
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Ethos ohne Zukunft?
[…] Die erwähnten Entwicklungen tangieren also sehr wahrscheinlich die zentralen Elemente des Ethos der Wissenschaft. Damit würden seine zentralen Funktionen, die der sich weitgehend selbst steuernden Wissensproduktion und die Selbstlegitimation gegenüber der Gesellschaft, außer Kraft gesetzt.
(Prof. Dr. Peter Weingart)