19. Juli 2008
Martin Wagenstein: Es ist ein Vergehen an jungen Menschen, ihnen etwas beibringen zu wollen, was sie unmöglich verstehen können
Im Zusammenhang mit meinem Gedankenexperiment Was würde am Strand passieren? verweise ich auf Aussagen aus einem Artikel in HEISE-Online vom 12.02.08:
Der Lehrer und Didaktiker Martin Wagenschein veröffentlichte 1975 seinen unter Experten bekannten Aufruf „Rettet die Phänomene!„. Darin forderte er, in den Naturwissenschaften nicht nur abstraktes Wissen zu vermitteln, sondern Schülern durch die aktive Untersuchung ihnen selbst zugänglicher Phänomene zu ermöglichen, wissenschaftliche Methodiken zu erlernen. Dabei ging es ihm nicht darum, praktische Anwendungen zu vermitteln, sondern die Schüler sollten, so wie die ersten Wissenschaftler auch, von ihnen selbst beobachtbaren Phänomenen ausgehen und im Verlaufe von Untersuchungen dazugehörige theoretische Begriffe und Erklärungsmöglichkeiten entwickeln. Als Beispiel nannte er eine Gruppe von Schülern, die untersucht, wie Schatten entstehen. Die von den Schülern zu entwickelnden Hypothesen und Theorien sind immer abstrahierend. Im Gegensatz zum einfachen Vorsetzen von Theorien forderte Wagenschein jedoch, dass die Kinder den Abstraktionsprozess selbst lernen sollten. Er war in diesem Punkt kompromisslos und meinte, was Schülern phänomenologisch nicht zugänglich sei, solle in der Schule auch nicht gelehrt werden.
Ganz besonders war ihm die Atomphysik ein Dorn im Auge: „Ich glaube nicht, dass es gut ist, in der Mittelschule viel von Atomphysik und Elektronen zu reden. Jede anschaulich räumliche Vorstellung dieser Gebilde ist ganz einfach falsch.“
Wagenscheins Ansatz lässt sich leicht von der Physik auf die Mathematik übertragen. Auch mathematische Methoden lassen sich erlernen, indem die Schüler von ihnen unmittelbar zugänglichen Fragestellungen ausgehen.
Oberflächlich betrachtet wird Wagenschein somit zum frühen Protagonisten einer praktischen Mathematik- und Physikdidaktik „zum Anfassen„. Zu seiner Zeit waren seine Appelle jedoch weitgehend wirkungslos, zumindest was die deutsche Schulpraxis angeht. Wer jedoch glaubt, die gegenwärtige Orientierung der Nach-PISA-Zeit auf praktische Anwendungsmöglichkeiten wäre eine späte Rehabilitierung Wagenscheins, der irrt gewaltig.
(Christian Gapp)
Es ist ein Vergehen an jungen Menschen, ihnen etwas beibringen zu wollen, was sie unmöglich verstehen können, oder, um es verständlich zu machen, es falsch darzustellen.
(Martin Wagenschein)